3.August 1997





The Spirit of the Page - Robert Calvert im WWW

transcription of a radio feature by Ulrich Gutmair


[das feature als realaudiofile]


Nichts schien die Stimmung von 1972 besser zu treffen als "Silver Machine", die erste Single der britischen Rockband Hawkwind: Während amerikanische Astronauten den Weltraum eroberten, erkundeten junge Menschen die endlosen Weiten ihres stetig expandierenden Bewußtseins. "Silver Machine" brachte diese gerade kursierenden Optionen in Sachen menschlichen Fortschritts scheinbar auf den griffigen Slogan einer großen Abfahrt und katapultierte die Band in die britischen Charts. Dabei hatte der temporäre Frontmann, Sänger und offizieller "resident poet" der Band, Robert Calvert, nichts weiter im Sinn, als den Mythos vom technischen oder sonstwie gearteten Fortschritt zu dekonstruieren.

Die silberne Maschine, die vom Publikum begeistert als Synonym für futuristische Technologie und psychedelische Erfahrungen gleichermaßen aufgenommen wurde, war in Wirklichkeit das silberne Fahrrad, das der kleine Bob Calvert einmal besessen hatte. Die Idee für Silver Machine bezog Calvert aus einem Artikel Alfred Jarrys über die Konstruktion einer Zeitmaschine. In Wirklichkeit, so Calvert, beschrieb Jarry unter einem Wust von Terminologie aus der Physik die exakte Bauanleitung für ein Fahrrad, bloß habe die Ironie der Geschichte außer ihm wohl keiner bemerkt.

Calvert, der in den 70ern und 80ern immer wieder mit Hawkwind zusammenarbeitete, machte die Band zu einem Vehikel seiner eigenen poetisch bis satirischen Form von Science Fiction. Während Hawkwind aber längst Teil populärer Geschichtsschreibung sind, ist Calvert selbst beinahe unbekannt geblieben. Das WWW-Projekt "Spirit of the P/Age" des Berliner Videokünstlers Knut Gerwers versammelt bisher weltweit verstreutes Material zum größten Archiv in Sachen Calvert und ruft den Poeten als romantischen Technologen zurück ins Gedächtnis.

Knut Gerwers:
"Calvert ist sehr stark aus dieser Science Fiction Berwegung rausgekommen, die wiederum sehr durch das New Worlds Magazine transportiert wurde, das sein Freund Michael Moorcock initiierte. Für New Worlds schrieben James Graham Ballard, Brian Aldiss und viele andere - Calvert eben auch. Gerade seine frühen Texte haben diesen Science Fiction Background, aber nicht in dieser klassischen Science Fiction Art, also dieses Buck Rogers Getue. Sondern sehr stark auf eine technologische Ebene abgehoben, die sich dann wiederum damit beschäftigt: Was macht das eigentlich mit dem Menschen? Diese Technologie die zunehmend in den Menschen eindringt. Was machst das mit dir? Wie ändert das die Existenzbedingungen? Cloning, Maschinen, Computerisierung."

Im Gegensatz zu seinen Hippiekollegen, die auf dem Weg zurück zur Natur waren, verstand Calvert Technologie nicht ausschließlich als Folge und Metapher einer bösen, entfremdeten Gesellschaft. Als Luddit mit einer Faszination für Technologie, wie ihn eine seiner drei Frauen einmal beschrieben hat, entwickelte er einen scharfen Blick für die technologischen Möglichkeiten, die Wissenschaft generiert. Gleichzeitig verfügte er über die nötige Fantasie, deren mögliche Folgen für das Leben jedes und jeder einzelnen mit Emphase nachzuspüren. Vor allem das Cloning von Menschen zieht sich als Thema über Jahrzehnte durch Calverts Werk. Die Vervielfältigung genetisch identischer Exemplare der Gattung Mensch markiert den Endpunkt des Verschwindens des Individuums, an dem Calverts Überlegungen zur eigenen Identität einsetzen: Liebe dein Symptom wie dich selbst.

Robert Calvert: The Clone's Poem
I am a clone, I am not alone
Every fiber of my flesh and bone
Is identical to the others'
Everything I say is in the same tone
As my test tube brothers' voice
There's little choice between us
If you had ever seen us
You would rejoice in your uniqueness
And consider every weakness
Something sprecial of your own
Being a clone I have no flaws to identify
Even this doggerel that pours from my pen
Has just been written by
Another twenty telepathic men
'O for the wings of any bird
Other than a battery hen.

Er sei keinesfalls gegen wissenschaftlichen Fortschritt als solchen, erklärte Calvert, nur gegen dessen Mißbrauch. Die Logik der neuen Reproduktionstechnologien etwa, die letztendlich Möglichkeiten entwickeln, Menschen schnell und einfach herstellen zu können, ziehe zwangsläufig die Entwertung menschlichen Lebens überhaupt nach sich. Neben der Biotechnologie interessierte sich Calvert bereits früh für das Leben online und schuf mit "The Kid from Silicon Gulch"ein Musical, das satirisch eine klassische Detektivgeschichte mit dem Cyberspace verband. Für die 1978er Hawklordsplatte "25 Years On" erfand er schließlich den multinationalen Medienkonzern Pan Transcendental Industries Inc., der Virtual Reality als Lösung aller ökonomischen und sozialen Probleme propagiert.

"Reality you can rely on. In recent times, Pan Transcendental Industries Inc., realising the fundamental problems of twentieth century man, have started to implement our next 25 year plan. Using our extensive resource our programme intends to celebrate a Utopia unprecented in history. Our true ambition is to create a heaven totally fabricated by man. To live logically inside fantasy. Today on earth techno psychic batteries are the key to a scale of synthetic experience representing a free fall in the space of divine imagination."

Calverts imaginärer Supertrust bediente sich der selben quasi-religiösen Versatzstücke, mit denen Kalifornien heute dem Rest der Welt die Errungenschaften der virtuellen Realität verkauft. Daß Calvert also schon 1978 als Cyberpunk erschien, verblüffte vor allem die englische Musikpresse, die Hawkwind selbst systhematisch zur hippiesken Anti-these von Punk aufgebaut hatte. Dabei hatte bereits Hawkwinds zweite Single von 1973, Urban Guerilla die revolutionären Strategien der Hippies - Liebe, Blumenkraft und Sex in der Öffentlichkeit - in bester Punk-Manier demontiert.

Musik:
Urban Guerrilla
Hawkwind

Calverts Aufstand im Zeichensystem zeigte Wirkung. Die Platte wurde von der United Artists trotz kletternder Verkaufszahlen eingezogen und von der BBC aus dem Äther verbannt. Calvert selbst mußte sich intensiven Verhören durch den Staatsschutz unterziehen. Mehr als die traditionelle Polizeipräsenz auf Hawkwind-Konzerten und regelmäßige Hausdurchsuchungen bei den Bandmitgliedern wegen Drogen und subversiver Aktivitäten trübten manische Phasen das Klima in Calverts Mikrokosmos. Die Liste von Künstlern und Bands, mit denen Calvert kollaborierte ist unter anderem deswegen so lang, auch der Krach mit den Kollegen von Hawkwind führte mehrmals zum Split der Band. Er war sich seiner Krankheit immer bewußt und begab sich mehrmals selbst in psychiatrische Behandlung. Meistens nutzte Calvert seine manischen Phasen aber als Katalysatoren. Er konnte mehr, länger und inspirierter arbeiten, führte damit aber regelmäßig den Kollaps herbei.

Knut Gerwers:
Wenn er 'hyper' war, wie er das nannte, konnte man ihn schwerlich ertragen. Und hyper war er, wenn er arbeiten ging. Das extremste und "netteste" Beispiel ist wahrscheinlich die Calvert-in-Paris-Episode. Calvert ist bekannt dafür gewesen, aufwendige Bühnenshows zu betreiben. Er hat fast zu allen Songs eine eigene Figur entwickelt, sich ein eigenes Kostüm zurechtgelegt und zu jedem Lied eine Kurzperformance gestaltet. Je länger diese Tourneen waren, desto mehr ist er in diese Figuren versunken, und desto schwieriger wurde es für ihn, nach dem Konzert wieder auszusteigen. Eine davon war eine arabische Terroristenfigur. Bei der Europatournee 1977 waren sie solange unterwegs, daß er völlig in dieser Figur aufgegangen ist und sich irgendwann geweigert hat, das Kostüm wieder auszuziehen. Das heißt er ist auch tagsüber im Kampfanzug mit Gaspistole am Gürtel durch die Gegend gefahren. Das war 1977 - zur Hochzeit des europäischen Terrorismus. Beim Konzert in Paris ist die Situation dann völlig umgeschlagen und er ist wirklich in dem Wahn gewesen, er sei der Führer aller europäischen Terroristenorganisationen und das Publikum bestände aus potentiellen Kollaborateuren, die er dann prompt alle hinter die Bühne eingeladen hat, als das Konzert vorbei war. Die anderen Jungs waren natürlich schon völlig entnervt und haben ihn da sitzen lassen und der arme Bühnenmanager mußte es ausbaden. Als der ihn dann gebeten hat, doch langsam Schluß zu machen, weil sie weiterfahren müßten, da hat der gute Robert einfach sein Schwert gezückt und ist hinter ihm her.

Spirit of the P/Age bietet eine Fülle von Möglichkeiten, an Leben und Werk Calverts anzudocken, ist in dieser Fülle aber schon hart an der Grenze der Benutzbarkeit. Nur Fans werden allen Hypertext-Verzweigungen folgen, die die versatile Persönlichkeit Calverts repräsentieren. Aber das ist ja auch nicht nötig. Spirit of the P/Age nutzt das Netz als Archiv und bietet damit einen Ausblick in eine Welt, in der kulturelles Wissen nicht mehr im Bücherschrank, sondern auf dezentralen Servern aufbewahrt wird. Daß gerade Robert Calvert, der 1988 an Herzversagen starb, jetzt in den elektronischen Archiven des Internet solange weiterlebt, bis der Strom ausgeht, ist dabei wohl mehr als angemessen.

Spirit of the P/Age:
http://aural-innovations.com/robertcalvert

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- 3.August 1997 -


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